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13.08.2003 | Die Zeit | von Richard Herzinger

Der Moralismus des Zynikers

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Es wird Zeit, die Fortschritte bei der Entwicklung des zivilen Lebens im Irak zur Kenntnis zu nehmen. Alle westlichen Demokratien, alle freiheitsliebenden Nationen und Organisationen müssen sie jetzt unterstützen. Doch mancher deutsche "linke" Moralist verbunkert sich lieber in seinen Ressentiments gegen das böse Amerika

Es wird Zeit, einige Aspekte der Entwicklung im Irak zur Kenntnis zu nehmen, die nicht zu der apokalyptischen Grundmelodie vieler deutscher Medienberichte passen. Kann es wirklich irgend jemanden überraschen, dass eine so ungeheuer schwierige Transformation wie die Emanzipation einer Gesellschaft aus einer Jahrzehnte währenden totalitären Diktatur nach nur vier Monaten noch alles andere als ein harmonisches Bild ergibt? Die Beschleunigung der medialen Umschlagszeiten für aufmerksamkeitsfesselnde Ereignisse - der ganze Irak-Krieg bis zum Fall Bagdads hat gerade mal drei Wochen gedauert! - verzerrt unsere Wahrnehmung derart, dass wir schon nach wenigen Monaten dieses oder jenes Fazit ziehen und Endergebnisse beurteilen wollen. Aber das ist angesichts einer solch großen, widerspruchsreichen Aufgabe wie dem Wiederaufbau des Irak eine apolitische Betrachtungsweise.

Gewiss, schönfärberische Prognosen einiger neokonservativer Wortführer in Washington vor dem Krieg haben dazu beigetragen, den Erwartungsdruck in Sachen Nachkriegs-Stabilisierung und Demokratisierung in absurde Höhen zu treiben, und es ist nur recht und billig, wenn ihre Prophezeiungen ihnen jetzt, bildlich gesprochen, um die Ohren gehauen werden. Von einem Scheitern der amerikanisch-britischen Mission kann aber ebenfalls keine Rede sein. Im Gegenteil: Langsam, aber sicher macht sie Fortschritte.

Die Selbstregierung der Iraker auf nationaler und lokaler Ebene kommt voran. So gut, dass es nun schon im kommenden Jahr freie Wahlen geben soll. In dem jüngst eingesetzten Regierungsrat, der Vorstufe zu einer Übergangsregierung, sind alle wichtigen politischen und ethnischen Kräfte des Landes vertreten. Es ist hierzulande kaum vermerkt worden, was es bedeutet, dass der erste Beschluss dieses Rates lautete, den 9. April - den Tag der Befreiung Bagdads durch die Amerikaner - zum Nationalfeiertag zu erklären. Zum Vergleich: Wie lange hat es gedauert, bis der deutsche Bundespräsident es riskieren konnte, den 8. Mai 1945 in einer öffentlichen Rede als "Tag der Befreiung" zu bezeichnen! Es war im Jahre 1986, 41 Jahre nach Kriegsende.

Nicht zuletzt durch eine selektive Berichterstattung in manchen Massenmedien, hat sich in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit der Eindruck festgesetzt, die Anschläge gegen US-Soldaten und die Sabotageaktion gegen Pipelines und Elektrizitätswerke erfreuten sich eines breiten Rückhalts in der irakischen Bevölkerung. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Die von den Untergrundstrukturen des alten Regimes verübten Terrorakte zielen nicht zuletzt auf die Einschüchterung der Bevölkerung - sie sollen suggerieren, dass das Regime noch stark sei und eines Tages zurückkehren werde. So sollen die Iraker davon abgehalten werden, mit der Besatzungsmacht zusammenzuarbeiten. Es wird bei uns zu wenig wahrgenommen - oder durch die Brille eines "antiimperialistischen" Widerstands-Romantizismus verdunkelt -, dass die Zerstörung der Reste des Saddam-Regimes nach wie vor der Schlüssel für jede positive Entwicklung im Irak ist. Erst wenn definitiv ausgeschlossen ist, dass die Baath-Partei wie derkehren kann, wird sich die irakische Zivilgesellschaft wirklich angstfrei entfalten können. Das erklärt auch die Tatsache, dass die große Mehrheit der irakischen Bevölkerung, und selbst antiamerikanisch eingestellte Gruppierungen, in Wirklichkeit keineswegs an einem raschen Abzug der US-Truppen interessiert sind. Nur ihre Anwesenheit garantiert im Augenblick zudem, dass die Einheit des Landes erhalten bleibt.

Seit die Schlächter Udai und Kusai Hussein tot sind, kommen die US-Truppen den terroristischen Strukturen zunehmend besser auf die Spur. Ein Video mit der angeblichen Stimme Saddam Husseins vom vergangenen Wochenende, in dem erneut allen "nationalen Verrätern" gedroht wird, hat in der irakischen Öffentlichkeit zumeist nur noch ein müdes Achselzucken ausgelöst. Keine Frage, die Verbesserungen der Lage im Irak geht schleppend und mit vielen Rückschlägen voran, und es wurden und werden von amerikanischer Seite gewiss viele Fehler gemacht. Ist das aber ein Grund, zu ignorieren, dass sich die Iraker zum ersten Mal seit Menschengedenken frei von der Verfolgung durch eine Geheimpolizei fühlen können, wenn sie eine nicht genehme Meinung äußern, dass sie Presse- und Versammlungsfreiheit genießen? Dass im Irak bei allen Schwierigkeiten ein grandioses, in der arabischen Welt kaum je dagewesenes Experiment des Neuaufbaus einer Gesellschaft in Freiheit beginnt, dessen Ausgang offen ist, d as sicherlich auch furchtbar schief gehen kann, das aber gerade deshalb die positive Einmischung und Unterstützung aller freiheitsliebenden Nationen und Organisationen erfordert? Es hat sich für den Nahen Osten ein historisches Fenster geöffnet, und diese Öffnung muss jetzt genutzt werden.

Einen erheblichen Teil der deutschen Intellektuellen ficht all das jedoch nicht an. Sie haben sich längst aggressiv von der Wirklichkeit im Irak und im Nahen Osten, wie von jeder politischen Wirklichkeit überhaupt abgekoppelt und gefallen sich in der hämischen Haltung verbitterter Besserwisser, die ihr ganzes Selbstbewusstsein aus der Hoffnung schöpfen, dass den verhassten Bush-Amerikanern im Irak eine blutige Lektion erteilt werde. Besonders verächtlich ist es, dass sie diese verbissene Schadenfreude auch noch als Ausdruck einer moralisch überlegenen Position ausgeben. So schreibt der ehemalige Theaterintendant Ivan Nagel in der FAZ vom 5. August: "In Europa mehren sich die Stimmen: Die Gegner des Kriegs sollen nun die Schäden des Krieges mit beheben. Ob aus Mitleid mit Irakern oder Amerikanern, ob mit oder ohne UN-Aufsicht - dieses Vorgehen wäre aberwitzig. Es spielt sich als mutige Realpolitik auf und und ist feiger Opportunismus. Mit ihm würden Schröder, Chirac und ihres gleichen ihre Glaubwürdigkeit verschleudern; nicht nur daheim, sondern vor allem in Amerika."

Doch aberwitzig ist in Wahrheit nur diese Tirade des vermeintlichen Moralisten, der seinen ressentimentgeladenen Zynismus nur mühsam unter der Pose des kritischen Denkers verbergen kann. Schon der erste Satz enthält eine schlimme Verdrehung der Verhältnisse: Die "Gegner des Krieges" - womit Nagel die deutsche und französische Regierung meint, die an mehreren Schauplätzen des Globus Krieg führen - seien aufgefordert worden, "die Schäden des Krieges" zu beheben. Worum es im Irak aber tatsächlich vor allem geht, ist die Behebung der Schäden einer 35 Jahre währenden totalitären Diktatur, die ein einst wirtschaftlich aufblühendes Land durch grauenhafte Kriege nach außen und entfesselten Terror nach innen in einen gesellschaftlichen Friedhof verwandelt hat. Es ist bezeichnend, dass der "Moralist" Nagel diesen nicht ganz unerheblichen Punkt zu erwähnen vergisst. Weiterhin sind die Schäden eines 12-jährigen Embargos zu beseitigen, das von den Vereinten Nationen über den Irak verhäng t wurde und für das Frankreich und Deutschland ebenso Verantwortung tragen wie die USA. Nagel sollte sich einmal dazu äußern, was die "glaubwürdigen" europäischen Staatenlenker Schröder und Chirac denn als Alternative zu dem amerikanisch-britischen Waffengang anzubieten hatten: nichts anderes als die Fortsetzung der verheerenden Sanktionen, unter der die irakische Zivilbevölkerung schrecklich zu leiden hatte, nicht aber das Regime, das sie nach Belieben ausplünderte.

Erst jetzt hat der Irak, befreit von einer der grausamsten Diktaturen des 20. Jahrhunderts wie auch von den Sanktionen, erstmals wieder eine Chance auf wirtschaftliche Entwicklung und den Wiederaufbau einer Zivilgesellschaft. In dieser Situation schwadroniert der deutsche Moralpauker darüber, Europa sollte dem Ansinnen wiederstehen, den Irakern aus "Mitleid" zu helfen. So, als seien sie durch die amerikanisch-britische Intervention zu bemitleidenswerten Geschöpfen geworden. Aber nicht das "Mitleid" eines hochfahrenden deutschen "linken" Bildungskleinbürgertums, das abseits der Realhistorie seine gründlich durcheinandergeratenen Denkkategorien sortiert, bis sie sich wieder zu einem widerspruchsfreien Denkbild fügen, benötigt die irakische Bevölkerung, sondern die tätige Unterstützung der westlichen Demokratien bei ihren ersten Schritten zum Aufbau einer besseren, friedlicheren, pluralistischen und hoffentlich am Ende sogar demokratischen Gesellschaft. Die westlichen Demokratie n sollten diese Unterstützung keineswegs aus reinem Altruismus leisten. Ein stabiler, prosperierender Naher Osten liegt mindestens so sehr im Interesse Europas wie dem Amerikas.

Nagel aber interessiert sich für diese Realität überhaupt nicht. Denen, die sie nicht vollständig verleugnen wollen, wirft er statt dessen "feigen Opportunismus" vor. Für prinzipienfest und mutig hält er es offenbar, die irakische Bevölkerung zum Zwecke des eigenen Rechthabens ihrem Schicksal zu überlassen. Und für einen kritischen Gedanken hält er es, den "Enthauptungsschlag gegen Iraks Regime" als "ähnlich dem" zu bezeichnen, "den Al Qaida gegen das Pentagon und das Weiße Haus plante". Kann man einen solchen Irrwitz eigentlich noch rational kommentieren?

Es wäre gefährlich, weil den eigenen nationalen Interessen zuwiderlaufend, wenn sich die deutsche Außenpolitik angesichts der Entwicklung im Irak auf eine trotzige Abwartehaltung versteifen würde. Und es wäre fatal, wenn die deutsche Öffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit weiterhin auf Fehlentwicklungen und Katastrophen im Land konzentrierte - oder sie sogar insgeheim erhoffte, weil man sich so krampfhaft suggerieren kann, die "Alteuropäer" hätten mit ihren Warnungen Recht behalten. Dass die Lage im Irak weiterhin instabil und voller Gefahren ist, kann natürlich niemand bestreiten, ebenso wenig, dass die amerikanische Zivilverwaltung Fehler macht; und all dies muss auch weiterhin deutlich benannt werden. Aber was folgt daraus? Doch nur, dass es umso nötiger wird, dass auch andere Nationen ihre Vorschläge und Fähigkeiten in die Waagschale werfen müssen. Ein neue UN-Resolution, die gegenwärtig in Vorbereitung ist, kann dafür den Weg ebnen. Deutsche Hilfe für den Irak muss im übri gen nicht unbedingt Entsendung von Truppen bedeuten; logistische Hilfe, zivile Aufbauhilfe, die Entsendung von Technikern, Juristen, Lehrern sind denkbare Möglichkeiten eines aktiven Engagements.

Die Hauptgefahr für den Irak liegt nicht etwa darin, von den "imperialistischen" USA dominiert zu werden, sondern darin, dass der US-Regierung über den enormen Aufgaben beim Aufbau einer zivilen Ordnung die Energie und die Geduld ausgehen, dass ihr der Einsatz von Leben von Soldaten und an Finanzmitteln zu kostspielig werden könnte - und die USA ihre Truppen deshalb abziehen, bevor stabile Verhältnisse im Land geschaffen worden sind. Die Angst davor ist es übrigens auch, die die irakische Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit vor allem verunsichert; denn nur die Anwesenheit der Amerikaner garantiert gegenwärtig, dass das alte Regime nicht zurückkehren kann oder das Land in möglicherweise kriegerisch zerstrittene Teile zerfällt.

Wenn also die Europäer tatsächlich den Eindruck haben sollten, die Amerikaner seien den Aufgaben im Irak nicht gewachsen, so müssten sie umso mehr darauf drängen, an der Entwicklung beteiligt zu werden. Die Vorstellung, eine solche Beteiligung sei eine Legitimierung des Vorgehens der USA im Vorfeld und während des Krieges, ist politisch infantil. Nichts würde die Europäer, würden sie im Irak mittun, daran hindern, bei nächster Gelegenheit wieder gegen amerikanische Kriegspläne zu opponieren. Die eine Frage steht mit der anderen in gar keinem kausalen Zusammenhang. Es sei denn, man folgte der Logik Ivan Nagels, der behauptet, eine Stabilisierung des Irak halte den USA den Rücken frei für neue militärische Aktionen gegen andere Länder. Nach dieser Logik müsste man sich wünschen, dass der Irak im Chaos versinkt, damit die USA daran gehindert werden, den Iran oder Syrien anzugreifen. Abgesehen von der Frage, ob man eine solche Haltung als eine moralisch akzeptable Haltung betrach ten kann, ist diese Logik auch völlig unsinnig. Je instabiler die Lage des Irak werden sollte, desto mehr würden sich angrenzende Mächte, und das sind neben der Türkei vor allem Iran und Syrien, in seine inneren Angelegenheiten einmischen. Der Druck auf die USA, diese Mächte notfalls militärisch im Zaum zu halten, würde so enorm wachsen statt abzunehmen. Die massiven Drohungen der US-Regierung gegen Syrien unmittelbar nach Ende des Irak-Kriegs haben Syrien dazu gezwungen, sich gegenüber der weiteren Entwicklung im Nachbarland zurückzuhalten und die Wahrscheinlichkeit eines US-Angriffs gegen Syrien damit wesentlich verringert. Ähnliches gilt für den Iran; hier kommt aber noch das Problem des iranischen Atomwaffenprogramms hinzu. Den Bau einer iranischen Atombombe würden die Vereinigten Staaten auf keinen Fall hinnehmen; wenn sich der Konflikt zuspitzen sollte, wäre dies allenfalls ein Argument für die "Realpolitiker" in Washington, Kapazitäten aus dem Irak abzuziehen, um sie für Schläge gegen den Iran nutzen zu können. Mit der Logik Ivan Nagels könnte man schließlich auch behaupten, das deutsche Engagement in Afghanistan hätte die USA dazu ermutigt, den Irak anzugreifen. Was dann allerdings zu der Schlussfolgerung führen müsste, dass Deutschland direkt mitverantwortlich für die Lage im Irak und umso mehr verpflichtet sei, zu ihrer Verbesserung beizutragen.

"Politik ohne Moral ist grundschlecht", doziert Ivan Nagel. Genauso gilt aber umgekehrt: Moral ohne politischen Verstand ist töricht und brütet Verantwortungslosigkeit und blanken Zynismus aus.


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