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Kulturkampf in Kurdistan

Eine neue junge Mittelschicht im Nordirak bricht mit Traditionen. Aber Extremisten rekrutieren die jungen Kurden, an denen die Entwicklung vorbeigeht

von Thomas von der Osten-Sacken

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Suaad Abdulrahman schüttelt entnervt den Kopf. „Wie hat meine Mutter das damals nur gemacht mit acht Kindern?“, fragt sie. Abdulrahman ist 33 und hat gerade ihr zweites Kind bekommen, eine Tochter. „Danach ist Schluss“, meint sie. „Schließlich will ich bald wieder arbeiten und nicht zu Hause versauern.“ Ihr Sohn, der inzwischen drei ist, geht von neun Uhr morgens bis zum Nachmittag in eine private Kinderkrippe. Spricht man mit den Eltern, die ihre Kinder hierher bringen, so sind fast alle Frauen berufstätig. „Für uns sind die Zeiten vorbei, da die Frauen zu Hause sind“, sagt ein junger Vater. Nicht ohne Stolz erzählt er, morgens kümmere er sich um seinen Sohn, da seine Frau gern lange schlafe.

Diese Szenen spielen sich keine 60 Kilometer von der iranischen Grenze ab, in Suleymaniah, der zweitgrößten Stadt der Föderalen Region Kurdistan-Irak. Deren Bewohner sind seit jeher stolz, aufgeschlossener und moderner als die Menschen in der Hauptstadt Erbil. Nicht ganz zu Unrecht. Denn langsam bildet sich in dieser Stadt mit fast 700 000 Einwohnern eine neue Mittelschicht heraus. Während in den umliegenden Dörfern und Kleinstädten so gut wie keine Frauen auf den Straßen zu sehen sind, schon gar nicht ohne Kopftuch, trägt nur noch etwa jede vierte Frau in Suleymaniah ihr Haar bedeckt.

Und wie die Kopftücher, so verschwinden vor allem bei jüngeren Frauen auch die Röcke. „Wer als moderne kurdische Frau etwas auf sich hält, trägt keine Röcke mehr, sondern Hosen“, sagt die 24-jährige Journalistin Aziz Mohammad. „Das ist ein Symbol, dass man gegen die Kleidervorschriften rebelliert.“ Die Männer antworten mit Gel in den Haaren und engen Hemden „Made in Turkey“. Der früher obligatorische Schnurrbart gilt als unschick.

Auch wenn diese Mode bislang nur von einer relativ kleinen urbanen Schicht getragen wird, verändert sie doch das Aussehen der Stadt. Schließlich sind die Mitglieder dieser neuen Mittelschicht auch als Konsumenten interessant und zudem in der Lage, sich in Medien und Öffentlichkeit zu artikulieren. Sie orientierten sich allerdings weniger an europäischen als an libanesischen und türkischen Vorbildern – statt MTV sind die neuesten Musikclips aus Beirut oder Istanbul gefragt. Inzwischen gibt es auch in Kurdistan eine eigene Musikindustrie, und so manche lokale Produktion wagt sich schon an die Vorbilder aus den Nachbarländern heran. Die Männer und Frauen, die da zu kurdischem Pop tanzen, erinnern so gar nicht mehr an jenes alte Kurdistan mit Männern in Trachten und ihren folkloristischen Tanzdarbietungen.

Heute präsentiert man sich stolz als eine Art Avantgarde des neuen Nahen Ostens. Besonders jene jüngere Generation, die die Schrecken des Saddam-Regimes nur noch aus Erzählungen kennt, nutzt die – wenn auch noch kleinen – Freiräume. Seit 1991, als die Kurden sich von der Diktatur befreien konnten, herrscht im Norden des Landes nicht mehr der einst allgegenwärtige irakische Geheimdienst. Und Jugendliche machen heute im Nordirak, wie im gesamten Nahen Osten, die Mehrheit der Bevölkerung aus. Im Irak sind einem Bericht der Vereinten Nationen zufolge mehr als 60 Prozent jünger als 23 Jahre.

Aber bis vor Kurzem gab es keinerlei Angebote für sie. Während ihre Altersgenossen in Beirut oder Istanbul Diskotheken füllen und das dortige Nachtleben sich inzwischen kaum mehr vor dem europäischer Städte verstecken muss, geht man in Kurdistan gemeinhin früh ins Bett. Im vergangenen Jahr öffnete ein Bowlingcenter mit angeschlossenem Café, in dem auch die erste Espressomaschine der Stadt steht. Seitdem ist es Abend für Abend voll mit Twens, die sich am Tischfußball im Obergeschoss austoben, bowlen oder Bier trinken. Unter den Gästen sind zunehmend mehr Frauen. Waren Kaffeehäuser bislang eine reine Männerdomäne, so beginnt sich dies zu ändern. Der Inhaber eines der größten Supermärkte in der Stadt hat ein Café namens „Zara“ eröffnet, in dem auf Großbildschirmen libanesische Musikvideos laufen und neben verschiedenen Kaffeesorten alkoholfreie Cocktails angeboten werden. Tag für Tag ist der Laden gerammelt voll. Von Schülern bis zu jungen Familien reicht das Spektrum der Besucher. Nachmittags kommen Gruppen von Mädchen und Frauen allein, abends allerdings nimmt die Anzahl der weiblichen Gäste rasant ab.

Auch wenn viele dieser jungen Frauen in Kleidung und Auftreten in Spanien oder Griechenland nicht als Ausländerinnen auffallen würden, herrscht doch auch in der hiesigen Mittelschicht noch eine rigide Moral. Unverheiratete Frauen, die nach 20 Uhr unterwegs sind, müssen noch immer um ihren Ruf fürchten. Undenkbar, dass ein Mädchen bei seiner Heirat keine Jungfrau mehr wäre. Die Ehe ist nach wie vor eine Familienangelegenheit. Ein junges Paar mag sich noch so lieben – lehnt eine der beteiligten Familien, aus welchen Gründen auch immer, die Heirat ab, gibt es keine Chance mehr.

Konservative Kurden und vor allem die islamischen Parteien stellen aber selbst die kleinen Entwicklungen und Freiräume fundamental infrage. Entsprechend stark ist ihr Widerstand. Von Sünde und Hölle predigen jeden Freitag unzählige Imame, sollten die Kurden weiter auf solchen Irrwegen wandeln. „Die exzessive Freiheit, die Feministinnen in unserem Land jetzt gegeben wird, bedroht unsere Rechtsordnung“, beklagte sich kürzlich Diyari Hawar, Mitglied der Kurdisch- Islamischen Vereinigung in Erbil gegenüber „Islam Online“. Kejo Zaho, ein Kleriker aus Suleymaniah, sieht die heilige Ordnung der Scharia bedroht. Und dies sind die gebildeteren Kleriker aus den Metropolen, in Dörfern und Kleinstädten herrscht noch ein anderer Ton. So ist es nichts Ungewöhnliches, wenn Dorfmullahs predigen, dass unbeschnittene Frauen nach ihrem Tod in die Hölle kommen.

„Die wissen, dass ihre Macht bedroht ist“, sagt Abdulrahman, „und würden die Zeit am liebsten zurückdrehen. Sie sagen uns, dies alles entspreche nicht unserer Kultur. Wir erwidern dagegen: Dies genau Juist unsere Kultur!“ Frauen wie sie haben studiert und sind berufstätig. Sie heiraten nicht mehr, wie noch ihre Mütter, mit Anfang, sondern erst mit Mitte zwanzig und warten ein oder zwei Jahre bis zum ersten Kind. „Die kurdische Gesellschaft ist noch immer von bäuerlichen Werten geprägt“, erklärt der Schriftsteller Awad Mohammad Pirwaz. „Auf dem Land ist es gut, viele Kinder zu haben, die für einen arbeiten und später im Alter für einen aufkommen.“ In der Stadt jedoch gälten andere Regeln. Es komme darauf an, seinen Kindern eine gute Ausbildung zukommen zu lassen. „Wie kann man“, fragt Pirwaz, „mehr als vier Kinder liebevoll großziehen?“

Drei seien mehr als genug, sagt auch Markwan Shakaram, Projektmanager bei der Kinderhilfsorganisation Kurdistan Save the Children. Seine älteste Tochter sprach schon mit zwölf Jahren fließend Englisch und wurde sogar als Vertreterin Kurdistan-Iraks ins internationale Kinderparlament gewählt. Wer in der Stadt viele Kinder habe, könne sich weder um sie kümmern noch ihnen eine Zukunft sichern, sagt Shakaram. Er weiß, wovon er spricht: Seine Organisation unterhält Einrichtungen für Straßenkinder in verschiedenen Städten der Region. „Die Menschen vom Land kommen jetzt zu Tausenden in die Städte und bringen ihre Wertvorstellungen mit“, fährt er fort. „Wie überall in der Dritten Welt entstehen neue Wohngebiete, die wie Dörfer strukturiert sind.“

Diese neuen Wohnviertel, die seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 und dem folgenden Bauboom aus dem Boden schießen, scheinen nicht wenige Kilometer, sondern Lichtjahre entfernt vom Treiben im Bowlingcenter oder Café „Zara“. Hier herrschen andere Regeln, die des ländlichen und kleinstädtischen Kurdistans, wo noch immer bis zu 80 Prozent aller Frauen genitalverstümmelt werden, Blutrache und Ehrmorde zum Alltag gehören und Frauen oft schon als Säuglinge verheiratet werden. Die Predigten des Mullahs, der häufig selbst kaum lesen und schreiben kann, haben Gesetzeskraft, und Mädchen, die mit 18 noch nicht unter der Haube sind, gelten entweder als anrüchig oder unattraktiv.

Dies sind auch jene Gebiete, in denen an den Straßenecken perspektivlose junge Männer in kleinen Gruppen herumlungern. Wer sich mit ihnen unterhält, stößt auf jene im Nahen Osten so typische Mischung aus Frustration, ungenutzten Energien und dem allgegenwärtigen Wunsch nach Sex, der unerfüllbar bleiben wird bis zur Heirat. Um diese jungen Männer kümmert sich niemand, für sie existieren weder Treffpunkte noch Jugendzentren. Auch wenn es inzwischen ein Ministerium für Jugend gibt, zeigt die politische Klasse Kurdistans bislang wenig Verständnis für diese Gruppe. Sie ist es aber, die am ehesten ansprechbar ist für die Propaganda der Islamisten, die ihnen als einzige politische Organisation eine vermeintliche Perspektive zu bieten haben. Aus diesem sozialen Milieu, das weder dörflich noch städtisch ist, rekrutieren die islamistischen Milizionäre ihren Nachwuchs. Banden wie die des islamistischen Hetzers Muktada al- Sadr in Bagdad haben mit dem traditionellen Islam wenig gemein, sie erinnern vielmehr ans Jugendgangs in den Gettos von Los Angeles oder New York. Sie bieten eine islamisch verbrämte Subkultur, kanalisieren das aufgestaute Testosteron in Aggressivität und geben dem Einzelnen das Gefühl, in einem sinnhaften Ganzen aufzugehen.

Aziz Mohammad kennt sich in den Dörfern aus, sie arbeitet in einem mobilen Team, das Aufklärung über Genitalverstümmelung betreibt. Sie weiß um das Unglück dieser Menschen. „Die Frauen sagen uns, sie wollen sich anders kleiden, anders leben, aber ihre Männer hindern sie daran“, erklärt sie. „Spricht man mit den Männern, so sagen sie einem, dass auch sie anders leben wollen. Aber alle haben Angst vor Veränderungen, weil sie so sehr in ihren Traditionen verfangen sind.“

Frauen und Jugendliche aber sind der wichtigste Antrieb für Veränderungen in der arabischen Welt. Zum Guten oder Schlechten. Denn sie sind es, die am meisten unter den bestehenden Strukturen leiden. Die Islamisten wissen dies, die ausländischen Hilfswerke offenbar häufig nicht. „Die Ausländer, die als Trainer oder Berater herkommen, reden ständig von Frieden“, kritisiert Aram Jamal, Geschäftsführer des Kurdish Election Institutes und einer der aktivsten Bürgerrechtler in Suleymaniah. „Wir befinden uns aber mitten in einem Kulturkampf, den unsere Seite gewaltfrei führt, während die andere vor nichts zurückschreckt. Die werfen Bomben und töten Frauen, nur weil sie kein Kopftuch tragen wollen. Unser Vorbild dagegen ist Martin Luther King. Wir brauchen dringend ein kurdisches 1968, keine langweiligen Konferenzen und Seminare.“

Die Demografie spricht eben eine klare Sprache. Noch entscheiden in der Regel Männer über 50 über das Geschick des Landes. Dies wird sich ändern, so oder so. Die Islamisten setzen deshalb auf die Jugend, die Aktivisten aus der neuen Mittelschicht in Suleymaniah versuchen dasselbe. Sie aber haben keinerlei internationale Unterstützung, während die Fundamentalisten auf schier unerschöpfliche Geldvorräte aus dem Iran und Saudi- Arabien zurückgreifen können. Aram Jamal kritisiert den Westen deshalb heftig: „Wo sind die Menschen- und Frauenrechtsorganisationen, wo die Nichtregierungsorganisationen, die uns unterstützen? Die haben offensichtlich alle mehr Angst vor den Islamisten als wir – und riskieren dabei doch gar nichts.“

Artikel erschienen in Welt am Sonntag, 21.12.2008


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