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»Das hat nichts mit kultureller Einmischung zu tun.«

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Ines Laufer ist Initiatorin des Netzwerks »Task Force für die effektive Prävention von Genitalverstümmelung« (www.taskforcefgm.de), das sich für den Schutz potenziell gefährdeter Mädchen mit Migrationshintergrund in Deutschland einsetzt.

Frau Laufer, wie viele Mädchen werden in Deutschland verstümmelt?

Eine absolute Zahl kann ich nicht nennen, weil in Deutschland bisher keine entsprechenden Studien oder Untersuchungen durchgeführt wur­den. Aber wir können uns sehr gut an den Erkenntnissen orientieren, die in europäischen Nachbarländern gewonnen wurden. Anhand dieser Informationen müssen wir davon ausgehen, dass zwischen 35 und 80 Prozent der gefährdeten Mädchen tatsächlich verstümmelt wer­den. Und die Anzahl der gefährdeten Kinder können wir ziemlich exakt mit 30?000 bis 50?000 angeben ausgehend von den Angaben des Statistischen Bundesamtes und der Aus­wertung der Geburtsstatistik der letzten Jah­re.

Nun gilt nach deutschem Recht Genitalverstümmelung als Körperverletzung und Misshandlung Schutzbefohlener. Wie viele Täter sind bis jetzt verurteilt worden?

Keine. Weder diejenigen, die Genitalverstümmelungen selbst durchführen, noch die Eltern oder Familienmitglieder, die zu Genitalverstüm­melungen an den minderjährigen Töchtern anstiften.

Und wie viele potenzielle Opfer konnten gerettet werden?

Gerade mal fünf Mädchen, alle mit Eltern bzw. Müttern aus Gambia, konnten durch die gerichtlich angeordnete Einschränkung des Aufenthaltsbestimmungsrechts der Eltern davor bewahrt werden, einer Gefährdung im Heimatland der Eltern ausgesetzt zu werden. Das heißt, den Eltern wurde aufgrund der akuten Gefährdung verboten, die Kinder in das afrikanische Land zu verbringen.

Woran liegt das?

Wenn es um die Frage geht, weshalb bisher noch keine Täter verurteilt wurden, obwohl in unserem Land Tausende minderjährige Verstümmelungsopfer leben, kann ich eine schlüssige Antwort geben. Eines vorweg: Es liegt keineswegs an strafrechtlichen Defiziten oder Problemen. Im Gegenteil, Genitalverstümmelungen sind nach geltender Gesetzeslage in jedem Fall verfolgbar.

Das Problem ist vielmehr in den gesetzlichen Rahmenbedingungen zu sehen. Man muss wissen, dass Genitalverstümmelungen an kleinen Kindern, oft an Babys verübt werden, die sich noch nicht einmal verbal artikulieren können und die immer von den Tätern abhängig und deren Druck und Drohungen ausgesetzt sind, gegenüber Dritten nichts über die an ihnen verübte Gewalt zu äußern. Das ähnelt in gewisser Weise der Systematik sexualisierter Gewalt an Kindern innerhalb von Familien. Das bedeutet, dass man die Opfer zur Einleitung von Strafverfahren gegen die Anstifter der Verstümmelung nicht heranziehen kann. Im Gegensatz zu klassischen Formen von Gewalt an Kindern, z.B. Ver­nachlässigung, Prügel etc., kann die Ver­stüm­melung der Genitalien kaum von Personen aus dem sozialen Umfeld erkannt werden, sondern nur im Rahmen einer ärztlichen Untersuchung. Ärzte, die eine Genitalverstümmelung feststellen, dürfen jedoch aufgrund ihrer Schweigepflicht keine Informationen an Strafverfolgungs­behörden oder andere Behörden weitergeben.

Welche Maßnahmen fordern Sie von der Bun­desregierung?

Die Bundesregierung muss im Rahmen ihres Schutzauftrages, den sie für die Kinder in diesem Land innehat, dafür sorgen, dass die Verstümmelung kleiner Mädchen von vornherein unterbunden wird. Die Prävention von Genitalverstümmelung muss im Kontext der Debatte um den generellen Kinderschutz in Deutschland gesehen werden.

Genitalverstümmelung ist jedoch eine so spe­zifische und systematische Gewalt gegen Kinder, dass besondere Aspekte beachtet werden müssen. Zum Beispiel können wir mit einer Wahrscheinlichkeit bis 98 Prozent die Opfer bereits im Vorfeld der Tat bestimmen. Das gibt es bei keinem anderen Gewaltverbrechen. Bei Genitalverstümmelung handelt es sich um eine einmalig verübte, schwerste Misshandlung von Kindern. Wenn der Schutz einmal versagt wird, gibt es keine zweite Chance für die Opfer ist es dann zu spät.

Zum einen müssen Verstümmelungen in Deutschland oder im europäischen Ausland verhindert werden, zum anderen muss sichergestellt werden, dass die Mädchen nicht zur Verstümmelung in die Heimatländer gebracht und gegebenenfalls dort zurückgelassen werden.

Es muss genau eruiert werden, welche Mädchen grundsätzlich von Genitalverstümmelung bedroht sind. Sie müssen in einer so genannten Risikogruppe zusammengefasst werden.

Wenn die Mädchen dieser Risikogruppe in regelmäßigen Abständen, z.B. alle drei Jahre, einem obligatorischen genitalen Unversehrtheits-Check-Up durch Amtsärzte unterzogen werden, kann garantiert werden, dass kein Mädchen verstümmelt wird, ohne dass dies aufgedeckt wird. Die Einführung einer gesetzlichen Meldepflicht ist unabdingbar, um die Verstümmelungen an die Strafverfolgungsbehörden melden und die Täter angemessen bestrafen zu können.

Die Verstümmelung im Heimatland der Eltern kann dadurch verhindert werden, dass die Verbringung der Mädchen in diese Länder bis zum 18. Lebensjahr grundsätzlich untersagt wird.

Wie ließe sich diese »Risikogruppe« sinnvoll definieren? Wären nationale Zugehörigkeit, ethnische Herkunft oder Religionszugehörigkeit bestimmend? Wären ihrem Maßnahmekatalog zufolge nur Migranten aus Ländern wie Ägypten betroffen, wo die Verstümmelungsrate über 90 Prozent beträgt? Was ist mit Ländern wie dem kurdischen Nordirak mit einer Rate von 60 Prozent oder Kamerun mit nur 20 Prozent?

Die Risikogruppe muss so gefasst werden, dass alle gefährdeten Mädchen von dem Schutz profitieren können und gleichzeitig so wenige Mäd­chen wie möglich erfasst werden, die tatsächlich nicht gefährdet sind. Ich schlage vor, Mädchen aus Ländern mit einer Verstümmelungsrate über 50 Prozent grundsätzlich alle in die Risikogruppe aufzunehmen und Mädchen, die aus Ländern stammen, in denen weniger als 50 Prozent der weiblichen Bevölkerung verstümmelt werden, aufgrund der Zugehörigkeit zu der jeweiligen FGM praktizierenden ethnischen Gruppe in die Risikogruppe aufzunehmen. Das gilt für afrikanische Länder ebenso wie für Jemen, Irak, Indonesien und Malaysia. Hinzu kom­men die Mädchen, die in binationalen Partnerschaften leben, bei denen mindestens ein Eltern­teil aus einem Risikoland stammt, sowie jene Mädchen, deren Eltern bereits die deutsche Staats­bürgerschaft angenommen haben, aber über einen entsprechenden Migrationshintergrund verfügen.

Was antworten Sie auf Vorwürfe, es sei rassistisch, eine »Risikogruppe« auf Basis ihrer bloßen Herkunft zu definieren und ihr dann bestimmte Pflichten und Einschränkungen aufzuerlegen?

Ich sage, es verhält sich genau umgekehrt: Zu dul­den, dass diesen Mädchen derart schwere Gewalt angetan wird, nur weil sie einen bestimmten ethnischen Hintergrund haben, ist rassistisch. Auf welcher ethischen und rechtlichen Grundlage darf diesen Mädchen ihr universelles Recht auf körperliche Unversehrtheit versagt werden? Nehmen wir als Beispiel Ägypten: Mehr als 90 Prozent der weiblichen Kinder dort werden genital verstümmelt. Es gibt weder Indizien noch Studien, die Grund zu der Annahme gäben, dass die Verstümmelungen aufgegeben werden, wenn die Familien Ägypten verlassen und sich z.B. für ein Leben in Deutschland entscheiden. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die entsprechenden Schutzmaßnahmen auf alle spezifisch hochgefährdeten Kinder anzuwenden.

Wie hat die Bundesregierung bisher auf Ihre Forderungen reagiert?

Bis 1998 wurde dieses Problem von der Bundesregierung überhaupt nicht beachtet. In diesem Jahr wurde ein interfraktioneller Antrag an die Bundesregierung verabschiedet, in dem Genital­verstümmelungen als schwere Menschenrechts­verletzung verurteilt und konkrete Maßnahmen gefordert wurden.

2008, zehn Jahre später, hat die Bundesregierung immer noch nichts unternommen, um die in Deutschland lebenden potenziellen Opfer vor der Verstümmelung zu schützen.

Sind andere Länder da weiter?

Nein. Die deutsche Rechtsprechung, die in Einzelfällen die Verbringung gefährdeter Mädchen nach Afrika untersagt hat, darf sogar als progressivste und konsequenteste in ganz Euro­pa angesehen werden.

Was die strafrechtliche Verfolgung von Tätern angeht, so hat Frankreich dank der Arbeit der Rechtsanwältin Linda Weil-Curiel als einziges europäisches Land Erfolge zu verzeichnen. Dort wurde in Einzelfällen das geltende Recht angewandt und sowohl Verstümmler als auch Eltern strafrechtlich zur Verantwortung gezogen.

Umfassende Präventionsmaßnahmen, welche die Opfer effizient schützen, gibt es bislang jedoch nirgends.

Hoffen Sie auf ein Umdenken bei den Gesetzgebern? Kinderschutz sollte doch absolute Priorität genießen.

Ja. Auf dem Kinderschutzgipfel 2007 wurde der Schutz der Kinder vor Gewalt zur höchsten Prio­rität erklärt. Der Schutz von kleinen Mädchen vor Genitalverstümmelung gehört zweifels­ohne dazu.

Bevor dieser mess- und nachweisbare Schutz für die gefährdeten Mädchen Realität werden kann, muss meiner Meinung nach ein grundlegender Prozess des Umdenkens sowohl bei den Gesetzgebern als auch in der deutschen Bevölkerung stattfinden: Genitalverstümmelung muss als systematische Gewalt an Kindern begriffen werden, mit dem Ziel, ihre Sexualität im Rahmen männlicher Herrschaftsansprüche kontrollieren zu wollen. Die Integration der Ver­stümmelung in die jeweilige Tradition erfüllt lediglich eine Vehikelfunktion; sie dient ausschließlich der Legitimierung der Gewalt innerhalb der Gesellschaft. Die Verurteilung und Äch­tung von Genitalverstümmelung hat deshalb nichts mit kultureller Einmischung zu tun, son­dern mit dem Engagement für die universellen Menschenrechte, auf die jede und jeder einen Anspruch hat.

Interview: Arvid Vormann

 


Artikel erschienen in Jungle World Nr. 20 vom 15. Mai 2008


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