Ein bisschen Terror
Ein Ex-Geheimdienstler berichtet über Massaker in irakischen Gefängnissen
von thomas von der osten-sacken und thomas uwer
Mit
dem Näherrücken des zehnten Jahrestages des
Golf-Krieges verschärfen sich auch die Auseinandersetzungen
um die von der irakischen Regierung forcierte Aufhebung
der internationalen Sanktionen gegen das Land. Seit dem
1. Dezember hat die irakische Regierung den begrenzt erlaubten
Ölexport eingestellt, um weiteren Druck auf den UN-Sicherheitsrat
auszuüben, die Sanktionen zu lockern.
Nicht ohne Erfolg: Den Gegnern der Sanktionen gilt das
Embargo längst als "stiller Genozid" und
eigentlicher Verursacher der gewalttätigen Herrschaftsverhältnisse
im Land. UN-Generalsekretär Kofi Annan kündigte
für Januar seinen Besuch in der irakischen Hauptstadt
an, um die Modalitäten einer weiteren Lockerung des
Embargos auszuhandeln. Zugleich gaben die UN bekannt,
der Irak habe rund 4,7 Milliarden US-Dollar, die aus dem
begrenzten legalen Ölverkauf für Medikamente
und Nahrungsmittel stammen, nicht abgerufen.
Es hätte dieser Meldung kaum bedurft, um jene eines
Besseren zu belehren, die allein das Embargo für
die Misere der irakischen Bevölkerung verantwortlich
machen. Anfang Dezember stellte der neue UN-Sonderberichterstatter
für Menschenrechte im Irak, Andreas Mavrommatis,
seinen Bericht der Vollversammlung vor. Binnen Wochenfrist
folgten der Jahresbericht von Human Rights Watch, eine
Verurteilung des Irak durch das Europa-Parlament sowie
die Veröffentlichung neuen Beweismaterials durch
einen ehemaligen irakischen Geheimdienstoffizier in Radio
Free Iraq.
Allein schon die Enthüllungen des ehemaligen Geheimdienstlers
Khalid al-Janabi sorgten zumindest in der britischen und
amerikanischen Öffentlichkeit für Aufsehen.
Janabi diente 20 Jahre in einer Spezialeinheit des irakischen
Geheimdienstes Mukhabarat, bevor er 1999 aus Angst vor
Strafmaßnahmen floh. Selbst die Eliten aus den irakischen
Sicherheits- und Staatsdiensten sind vor Verfolgung nicht
sicher. Denn mit dem Wissen über die Mechanismen
der systematischen Unterdrückung wächst auch
die Gefahr, Opfer von "Säuberungen" zu
werden. Seinen Angaben zufolge wurde Janabi am 27. April
1998 von Saddams Sohn Qusay Hussein persönlich mit
der Hinrichtung von Gefangenen im Bagdader Zentralgefängnis
Abu Graib beauftragt. Binnen eines einzigen Tages wurden
demnach 2 000 Insassen exekutiert, vorwiegend Gefangene,
die auf ihren Prozess warteten, als Maßnahme gegen
die Überfüllung des Gefängnisses.
Damit bestätigt Janabi die Berichte irakischer Oppositioneller,
vor allem der Irakischen Kommunistischen Partei, die dem
Regime in Bagdad seit langem vorwerfen, systematische
"Säuberungen" in irakischen Gefängnissen
durchzuführen (Jungle World, 52/98). Bislang galten
diese Vorwürfe als interessegeleitete Informationen
der Opposition, ebenso wie der Vorwurf, die irakischen
Sicherheitskräfte setzten spezielle Teams zur "Ehrverletzung"
und Vergewaltigung als Terrormaßnahme ein. Auch
hierfür liegen nun dem UN-Sonderberichterstatter
erstmals Beweise in Form von Videoaufzeichnungen vor.
Sollten sich die Vorwürfe Janabis bewahrheiten, so
könnten sie tatsächliche Konsequenzen nach sich
ziehen. Denn der Irak soll auch noch über 600 kuwaitische
Gefangene als Geiseln festhalten. Zehn Jahre nach dem
irakischen Einmarsch wird eine hohe Zahl kuwaitischer
Staatsangehöriger noch vermisst. Neben diesen hat
amnesty international die Namen von 16 000 weiteren "Verschwundenen"
im Irak aufgelistet. Damit befindet sich der Irak einsam
an der Spitze der Liste derjenigen Länder, die systematisches
"Verschwindenlassen" praktizieren.
Als das Interview mit Janabi bekannt wurde, reagierte
das britische Außenministerium prompt. Im Observer
war zu lesen: "Niemand sollte die Bestialität
des irakischen Regimes vergessen. Diejenigen, die jetzt
von den Vereinten Nationen eine Aufhebung des Embargos
fordern und sich dann vom Irak abkehren, laden Saddam
Hussein ein, die irakischen Kurden im Norden und die Nachbarn
Iraks erneut zu terrorisieren." Grundsätzlich
Neues allerdings haben weder Janabi noch die Berichte
des UN-Sonderberichterstatters zu bieten. Lediglich mit
bislang nicht bewiesenen Details wird dort beschrieben,
was Opposition und Menschenrechtsgruppen seit Jahren wissen.
Erwähnenswert sind diese Details deshalb, weil sie
auf die besondere Qualität und Quantität irakischen
Staatsterrors verweisen.
So wird, wer nach Grausamkeiten sucht, im Irak schnell
fündig: Deserteure werden gebrandmarkt, Dieben werden
Gliedmaßen amputiert, Familienangehörige Geflohener
werden regelmäßig in Haft genommen, schwerste
Folter und Vergewaltigungen sind bei Verhören normal.
Über 100 000 Kurden wurden in den letzten Jahren
im Rahmen der staatlichen "Arabisierungspolitik"
alleine aus der Erdölstadt Kirkuk vertrieben. Mindestens
400 000 Bewohner flohen vor der systematischen Zerstörung
der Sumpfgebiete des Südiraks, geschätzte 40
000 wurden in Lagern angesiedelt, wahrscheinlich ebenso
viele ermordet. Erst vor wenigen Wochen wurden landesweit
mehrere Hundert Frauen verhaftet und unter dem Vorwurf
der Prostitution mit dem Schwert enthauptet. Der Tag des
Massenmordes wurde von Staatschef Saddam Hussein zum "Tag
der Ehre der irakischen Frau" erklärt.
Obwohl kaum gravierender als das seit Jahren von der Opposition
gesammelte Material, scheinen die neuerlichen Vorwürfe
doch mehr Gewicht zu haben. Denn damit wird die Menschrechtssituation
im Irak mit der Diskussion um das Embargo verknüpft.
Es dürfte kaum reine Koinzidenz sein, dass der von
der US-amerikanischen Regierung gesponserte Sender Radio
Free Iraq das Interview mit dem Überläufer Janabi
gerade jetzt bringt. Mit dem Verweis auf die Menschenrechtssituation
im Irak könnten die USA und Großbritannien
nun versuchen, die Sanktionen neu zu definieren, die formal
lediglich von der Erfüllung der Abrüstungsauflagen
abhängig sind. Diese Argumentation zielt auf diejenigen
europäischen Länder, die am eifrigsten an der
Rehabilitation der Hussein-Regierung arbeiten und zugleich
in anderen Regionen versuchen, mit dem Schlagwort der
menschenrechtsorientierten Außenpolitik strategisch
und militärisch hegemoniefähig zu werden.
Dieselbe Haltung, mit der im Falle Jugoslawiens Völkerrecht
gebrochen wurde, wird nun im Falle des Irak gegen europäische
Interessen gewendet. Dass sich dabei zum Teil sogar dieselben
Protagonisten hervortun, mag wie eine Ironie am Rande
erscheinen. So wurde die Entschließung des Europaparlaments
Anfang Dezember, auf ein internationales Tribunal gegen
die irakische Regierung hin zu wirken, maßgeblich
von Daniel Cohn-Bendit und den Grünen im Europäischen
Parlament initiiert.
Fast könnte es scheinen, als habe sich hier der ideologische
Überbau der materiellen Politik bemächtigt.
Nachhaltig beeindrucken dürfte der Vorstoß
im Namen der Menschenrechte die am Irak interessierten
europäischen Regierungen kaum. Wirksam war eine "menschenrechtsorientierte
Außenpolitik" bislang nur, wo sie mit handfesten
Interessen und der faktisch-militärischen Möglichkeit,
diese auch durchzusetzen, einherging. Genau daran mangelt
es der britisch-amerikanischen Anti-Irak-Koalition.
In das erwünschte Dilemma geraten daher bestenfalls
jene Gruppen und NGOs aus dem linken oder grün-alternativen
Spektrum, die in den letzten Monaten auf Konferenzen und
in der Öffentlichkeit gegen das Embargo mobil gemacht
haben. Dafür, dass die neue Menschenrechtsdiskussion
im Falle des Irak auch deren inhärenten Anti-Amerikanismus
in Frage stellen wird, spricht wenig. Längst ist
die größte Menschenrechtsverletzung im US-dominierten
Embargo ausgemacht, wie auch die von Franz Schönhuber
und prominenten FPÖlern mitgegründete Organisation
SOS Irak glaubt. Die fragte kürzlich ihre "Kameraden",
"ob es eine Hilfsaktion für ein Volk, das in
jeder Hinsicht Leidensgenosse des deutschen Volkes ist
und Verhältnisse durchstehen muss, die auch Deutschland
aus seiner Geschichte kennt, wirklich nicht wert ist,
in größerem Ausmaß unterstützt zu
werden".
Erschienen in: jungle world Nr. 51/2000 v. 13. Dezember 2000