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»Eine Ehre für die Familie«

Über die Genitalverstümmelung im kurdischen Nordirak und die Bemühungen, etwas dagegen zu tun.

von Sandra Strobel und Arvid Vormann

http://www.jungle-world.com/

Die Länder des Nahen und Mitt­leren Ostens machen nicht gerade durch dynamische Entwicklungen von sich reden, weder auf öko­nomischem noch auf sozialem Gebiet. Allenfalls der islamistische Todeskult vermag manche zu inspirieren. Weithin regieren Stagnation, Depression und sexuelle Frustration die Verhältnisse. Die Identifi­kation mit der eigenen Unterdrückung fördert die Abwehr gegen alles, was nach einem besseren Leben riecht, weil es einem selbst verwehrt bleibt.

Wie anders es zugehen kann, wenn das Joch der Despotie nicht mehr auf den Menschen lastet, lässt sich im kurdischen Nordirak exemplarisch für die Region erahnen. An den Rechten der Frauen lässt sich in gewisser Weise der Grad der erlangten Freiheit erkennen. Während das von den islamischen Parteien beherrschte irakische Parlament sich noch heute einer Reform des einst von Saddam Hussein eingeführten »Ehrenmordparagraphen« verschließt, welcher den Mord an weiblichen Familienmitgliedern legalisiert, korrigierte ihn das kurdische Regionalparlament, nicht zuletzt aufgrund der Forderungen von Menschenrechts- und Frauenorga­nisationen, bereits 2002. Seitdem wird ein »Ehrenmord« in Kurdistan schlicht als Mord ver­handelt auch wenn noch immer viele Rich­ter den alten Traditionen anhängen. Die entstande­nen zivilgesellschaftlichen Verhältnisse ermöglichten es ebenso, dass im Jahre 2004 mit Unter­stützung der irakisch-deutschen Hilfsorgani­sation Wadi die Wahrheit über die dort übliche Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM) ans Licht kommen konnte.

Bis dahin waren solche Verstümmelungen ein Thema, über das man nicht sprach. Für die betroffenen Frauen war es etwas, das man prak­tizierte, »weil es schon immer so war«. Deshalb lag ihnen bislang die Idee, diese Praxis in Frage zu stellen, fern. Von offizieller Seite wurde geleug­net: Die Regionalregierung erklärte das Problem für nicht existent.

2004 fand sich zunächst eine kleine Gruppe engagierter Menschenrechtler zusammen, die der Genitalverstümmelung im kurdischen Nord­irak den Kampf ansagte. Eine Kampagne wurde geplant und schließlich im ganzen Land durchgeführt. Nach und nach gelang es, einen Großteil der Bevölkerung zu erreichen. Bald schon wurden energisch Diskussionen über dieses so lange beschwiegene Thema geführt.

Das Ergebnis einer ersten Datenerhebung war erschütternd: Von 1?544 Frauen und Mädchen waren 907 bereits Opfer von Genitalverstümme­lungen geworden. Bald wurde klar, dass solche Praktiken in weiten Teilen des Nord­irak üblich sind.

Im Februar 2006 fand in Arbil die erste Konferenz gegen weibliche Genitalverstümmelung statt. Zahlreiche Lokalpolitiker und Nichtregierungsorganisationen nahmen daran teil. Als Resultat der Veranstaltung entstanden erste Ent­würfe für ein Gesetz gegen FGM. Außerdem wurden Film-Clips produziert, die von lokalen Fernsehsendern gezeigt wurden. Mithilfe der regionalen Presse und des Rundfunks wurden Unterschriften für eine Petition gegen FGM gesammelt, die dem Regionalparlament vorgelegt wurde, nachdem über 14?000 Menschen sie unterzeichnet hatten. Ein Gesetz gegen Genitalverstümmelung steht vor der Verabschiedung.

Seit dem vergangenen Sommer führen mobile Teams im ganzen Nordirak eine umfangreiche wissenschaftliche Datenerhebung durch, deren Ergebnis in diesem Sommer vorliegen wird. Dabei konnte festgestellt werden, dass ein enger Zusammenhang zwischen FGM und Bildung besteht: Je höher die Bildung der Mutter ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass in der Familie die Praxis der Genitalverstümmelung üblich ist. Die Analphabetenrate ist im kurdischen Nordirak aufgrund der ständigen Flucht und Vertreibung der Menschen unter dem Baath-Regime extrem hoch. Es zeigte sich, dass, ähnlich wie auf dem afrikanischen Kon­tinent, die Genitalverstümmelung vor allem un­ter religiösen Gruppen praktiziert wird, vielen Muslimen gilt sie als »islamischer Brauch« (»sun­na«). Im Unterschied zu afrikanischen Ländern jedoch wird sie im kurdischen Nordirak in aller Stille und Heimlichkeit zu Hause oder im Hause der Nachbarn oder weiblichen Verwandten durchgeführt. Eine Feier findet nicht statt. Dennoch ist davon auszugehen, dass die Verstümmelung eine Art Initiationsritus sein und einen »Übergang« zum Erwachsensein mar­kieren soll.

Die Genitalverstümmelung ist ein vor allem von Frauen tradiertes Phänomen und wird von ihnen auch als »Sache der Frauen« betrachtet. Die Mutter spielt dabei eine Schlüsselrolle, denn sie organisiert meist die Verstümmelung und führt sie teilweise auch selbst durch. Meist wird das Mädchen jedoch von einer so genannten maman verstümmelt, einer alten Frau, die sich auf die Technik »spezialisiert« hat und sie üblicherweise von ihrer eigenen Mutter erlernt hat. Die Verstümmelung läuft unter katastrophalen Umständen ab. Nicht selten stirbt das Mädchen. Im Gegensatz zu zahlreichen afrikanischen und asiatischen Ländern hat im kur­dischen Nordirak anscheinend keine Medikalisierung stattgefunden.

Auch die Rolle religiöser Autoritäten ist noch nicht zur Gänze geklärt. Fest steht, dass zahlreiche Frauen im Nordirak meinen, sie selbst seien aus religiösen Gründen verstümmelt worden beziehungsweise müssten die Mädchen aus religiösen Gründen verstümmeln. Bekannt ist auch, dass zahlreiche islamische Prediger und Autoren eine solche Verstümmelung als »einen lobenswerten Akt« bezeichnen, während nur wenige sich offiziell dagegen aussprechen. Der berühmte Fernsehprediger Yussuf al-Qaradawi etwa ist ein prominenter Befürworter der Ge­nitalverstümmelung.

Viele Frauen wissen gar nicht, warum sie verstümmelt wurden. Die Angst vor sozialen Folgen wie Ausgrenzung oder Ehelosigkeit dürfte eine große Rolle spielen. Im Gegensatz zu afri­ka­nischen Ländern werden keine fälschlicherweise als »medizinisch« bezeichneten Gründe angeführt. Deutlich wurde, dass die Frauen sich über die Folgen solcher Verstümmelungen bisher nicht im Klaren waren und häufig körper­liche und psychische Folgeprobleme nicht mit diesem Eingriff in Verbindung bringen konnten.

Doch die Aufklärungsarbeit zeigt erste Erfolge: Frauen aus Dörfern, die solche Verstümmelungen nicht mehr vornehmen wollen, sind stolz darauf, nun »informiert zu sein«. »Warum habt ihr uns das nicht schon früher gesagt?« heißt es oft. Generell wünschen sich die Frauen, dass noch mehr für die Aufklärung getan wird. Viele von ihnen engagieren sich nun selbst. Die Frauen im kurdischen Nordirak haben begonnen, ihre bisherige Rolle in Frage zu stellen.


Artikel erschienen in Jungle World Nr. 20 vom 15. Mai 2008


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