zurück


Die Demokratisierung der irakischen Kurden

Trotz aller zum Himmel schreienden Missstände in Irakisch-Kurdistan bestehen Freiräume, aus denen sich so etwas wie eine offene Gesellschaft entwickeln kann. Die Demokratisierung zeigt sich in kleinen Schritten.

von Thomas von der Osten-Sacken

http://debatte.welt.de/

Dieser Tage entdeckte ich auf einem Büchertisch in Suleymaniah, der zweitgrößten Stadt Irakisch-Kurdistans, neben einem neu erschienen Werk über Mohammed und die Unterdrückung der Frau im Islam, ins kurdisch übersetzt, Karl Poppers Klassiker über die „offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Dem ist eine gewisse Symbolik nicht abzusprechen. Mir scheint nämlich, dass die Vision einer „offenen Gesellschaft“ im Sinne des Wiener Philosophen weit mehr dem Wunsch vieler Irakischer Kurden von einer besseren Zukunft Ausdruck verleiht, als der arg überstrapazierte Begriff Zivilgesellschaft, der inzwischen weitgehend aller Inhalte entleert, in keiner entwicklungspolitischen Debatte mehr fehlen darf.

Das Versprechen einer jeder Diktatur besteht ja letztlich darin, eine harmonische Gesellschaft ohne innere Konflikte zu erschaffen. Soziale Spannungen und politische Unzufriedenheit werden regelhaft als Intervention äußerer Feinde denunziert, deren vermeintliche Agenten im Inneren verfolgt werden. Diesem Muster folgte Saddam Husseins panarabischer Totalitarismus ebenso wie seine islamistischen Counterparts in anderen Ländern der Region. Es gehört in den Ländern der so genannten Dritten Welt zu den regelmäßig wiederkehrenden Tragödien, dass die, oft brutalst unterdrückte und in die Illegalität gedrängte Opposition, kommt sie nach dem Sturz der Tyrannei an die Macht, einem ähnlich gearteten Traum von Harmonie anhängt.

Und während eine Bevölkerung, die weder unabhängige Gewerkschaften noch Pressure Groups, keine freien Medien und andere gesellschaftlichen Institutionen kennt, auf die Einlösung der Vesprechen der neuen Machthaber harrt, wiederholt sich nur die Geschichte: Eine neue Diktatur entsteht. Dass dies bislang im Irak nicht geschehen ist, kann als großer Glücksfall bezeichnet werden.

Die Freiheit irakischer Kurden

Seit nunmehr 1991 wird der nördliche kurdische Teil des Landes von den zwei großen Parteien, der Kurdischen Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union (PUK) verwaltet, die beide, wenn auch nicht inhaltlich, so doch in ihren Strukturen an jene nationalen Befreiungsorganisationen erinnern, die so oft mit der Machtübernahme selbst zu Tyrannen wurden.

Heute erfreuen sich die irakischen Kurden im regionalen Vergleich einer Freiheit, von der iranische Studenten, syrische Menschenrechtsaktivisten oder saudische Frauenorganisation nicht einmal zu träumen wagen. Es gibt weitgehend freie Medien, keine Internetzensur und einige unabhängige Nichtregierungs- und Menschenrechtsorganisationen.

Die allgegenwärtige Angst

Vor allem aber ist die Angst, jenes konstitutive Element in nahöstlichen Diktaturen, im Verschwinden begriffen. Niemand, der nie länger im Nahen Osten war, kann dies in seinem ganzen Ausmaß verstehen. Nicht von ungefähr nannte der irakische Exilautor Kanan Makiya seine bahnrechende Studie über Saddam Husseins Staat „Die Republik der Angst“. Diese allgegenwärtige und doch nicht fassbare Angst hat die Menschen im Irak gelähmt, psychisch deformiert und eine Kultur der Lüge und des Misstrauens geschaffen, die auch Jahre noch nach dem Ende Saddams im Nordirak überall zu spüren war.

Allerdings ist Irakisch-Kurdistan alles andere als eine funktionsfähige Demokratie. Im Gegenteil, die Korruption hat babylonische Ausmaße angenommen, das Leben wir weiter von den zwei großen Parteien dominiert, die Wirtschaft und Alltag in weiten Teilen kontrollieren. Die Situation in den Gefängnissen ist, wie ich aus eigener Anschauung weiß und wie erst kürzlich von Amnesty erneut bestätigt, desolat. Auch mit den Menschenrechten steht es nicht zum Besten. Und in der Bevölkerung wächst die Unzufriedenheit mit dem Missmanagement der kurdischen Regierung fast stündlich.

Forderung nach tiefgreifenden Reformen

Neu allerdings ist die Art, wie sie sich beginnt auszudrücken. Eine wachsende Anzahl von Menschen ruft nicht mehr nach einer anderen, besseren Führung, nach der Wiederherstellung der Harmonie sozusagen, sie gibt nicht ausländischen Mächten die Schuld, sondern fordert tief greifende Reformen und beginnt sich jenseits der bestehenden Parteistrukturen zu organisieren.

Vor einigen Tagen etwa löste die Sicherheitspolizei in Suleymaniah eine völlig harmlose Studentendemonstration gewaltsam und mitten in der Nacht auf. Einige der Telnehmer wurden geschlagen oder anders misshandelt. In der Vergangenheit wäre eine solche Aktion weitgehend jenseits der Öffentlichkeit vonstatten gegangen. Im Kreise von Gleichgesinnten oder Freunden hätte man sich bestenfalls über solch staatliche Willkür bitter beklagt. Nicht so dieser Tage. Schon am Morgen danach rief eine Studentenorganisation zu einem Solidaritätstreffen auf, am Nachmittag dann organisierte man eine spontane Pressekonferenz zu den Vorfällen, bei der Vertreterinnen und Vertreter verschiedenster lokaler Organisationen heftigste Kritik am Vorgehen der Polizei übten.

Anzeige gegen den Chef der Sicherheitsdienste

Von einer Nacht- und Nebel Aktion, die an Saddams Geheimpolizei erinnere, war dort die Rede, die Sicherheitsdienste wurden von einem Rechtsanwalt gar mit der Mafia verglichen. Gefordert wurde nicht nur eine Entschuldigung seitens der Polizei, sondern eine gerichtliche Untersuchung. Unter Beifall der Anwesenden erklärte der Vater eines geschlagenen Studenten, er hätte Anzeige gegen den Chef der Sicherheitsdienste gestellt. Die Veranstaltung dauerte fast zwei Stunden und sowohl das regionale Fernsehen als auch Printmedien hatten Vertreter geschickt.

Weder bei den jungen, politisch offenbar unerfahrenen Studenten, noch bei den altgedienten Menschenrechtlern, die auf dem Podium oder im Publikum saßen, war dabei die geringste Angst zu verspüren. Niemand erwartete ein Sondereinsatzkommando der Polizei, das die Anwesenden verhaften würde, niemand zuckte unmerklich zusammen, als Redner die Regierung so scharf kritisierten.

Workshop über Demonstrationsrecht

Stattdessen vereinbarte man einen Workshop, zu dem ich eingeladen wurde, um über Demonstrationsrecht in Europa und meine Erfahrungen aus den 80er und 90er Jahren zu referieren. Auch bei diesem Seminar, das von Richtern, Rechtsanwälten, Studenten und Nichtregierungsorganisationen besucht wurde, ging es erneut hoch her, weder wurde an Kritik an staatlichen Organen noch Selbstkritik gespart. Kein Beitrag, der nicht die Regierung in einer Weise angriff, die noch vor zehn Jahren auch in den kurdischen Gebieten völlig undenkbar gewesen wäre. Inzwischen wurde sogar eine Kommission ins Leben gerufen, die ein neues Demonstrationsrecht zur Vorlage für das kurdische Parlament ausarbeiten soll.

Dies ist nur ein kleines Beispiel von vielen, die es niemals bis in die westlichen Medien bringen. Anders aber als etwa ähnlich mutige Kampagnen gegen Genitalverstümmelung oder Initiativen zur Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz handelte es hierbei nämlich um eine völlig spontane Reaktion, die eindrucksvoll demonstriert, wie dieses neue Selbstbewusstsein sich in Taten umsetzt.

Erste Grundlage für notwendige Veränderungen

Denn trotz aller zum Himmel schreienden Missstände in Irakisch-Kurdistan, sind es die auch bestehenden Freiräume, aus denen sich so etwas wie eine offene Gesellschaft entwickeln kann. Bisher profitierten einzig die Islamisten von der herrschenden Korruption, dem Nepotismus der Parteien und ihrer Unfähigkeit trägfähige ökonomische Strukturen zu schaffen. Dies könnte sich nun in einem schmerzhaften Prozess voller Rückschläge und Frustrationen erstmalig ändern. Und damit wäre eine erste Grundlage geschaffen für jene notwendigen Veränderungen, die überall im Nahen Osten so dringend anstehen.

Es mag deshalb wie ein Treppenwitz der Geschichte erscheinen, dass keine der Gruppen, die sich so couragiert für die Rechte der demonstrierenden Studenten einsetzen, irgendeine namhafte Unterstützung aus Europa erhalten. So möchte es einem manchmal scheinen, als ob das Bild von jener Zivilgesellschaft, die man in Europa ständig im Munde führt, dem falschen Versprechen gesellschaftlicher Harmonie mehr ähnelt, als jene sich herausbildende offene Gesellschaft in Irakisch-Kurdistan, bei der Widersprüche und Konflikte ertragen und ausgetragen werden müssen.


Artikel erschienen in Welt Debatte vom 06.08.2008


WADI e.V. | tel.: (+49) 069-57002440 | fax (+49) 069-57002444
http://www.wadinet.de | e-mail: